zur Erinnerung
Erfinder der Weltzeituhr Erich John "Zeit schert sich nicht um Grenzen" Hier wurden Ehen angebahnt, Liebhaber sitzengelassen, Revolutionen angezettelt: Seit 50 Jahren verabreden sich Menschen an der Weltzeituhr auf dem Berliner Alex. Dabei wäre das legendäre Kunstwerk fast gescheitert.

Von Katja Iken

Dr. Katja Iken, Jahrgang 1972, Absolventin der Axel-Springer-Journalistenschule, seit 2007 bei einestages. Studierte Geschichte und Romanistik, promovierte in Rom über Feminismus im Ersten Weltkrieg.
E-Mail: Katja.Iken@spiegel.de

Montag, 30.09.2019 09:37 Uhr

Wollten die Genossen seine Botschaft nicht begreifen oder waren sie schlicht zu blöd? Erich John sitzt im Garten seines Hauses in Berlin-Biesdorf, zuckt die Achseln, kichert vergnügt. Noch immer freut er sich diebisch über das Missverständnis.

Da besaß er die Chuzpe, für den zentralen Platz Ost-Berlins ein Kunstwerk zu entwerfen, das die Uhrzeiten auf dem ganzen Globus anzeigt - ein zehn Meter hohes Symbol für Freiheit und Offenheit, eine Provokation gegen Mauerbau, Unterdrückung, Zwang. Und wie reagierte der SED-Bauminister?

Klatschte Applaus, drückte ihm 3000 Mark in die Hand und rief: Bauen Sie das Ding gefälligst, und zwar so schnell wie möglich! John, 87 Jahre, schlohweißes Haar, verschmitzter Blick, ist sich ziemlich sicher, dass damals niemand aus dem Parteiapparat die subversive Aussage seiner Weltzeituhr verstanden hat. "Die fanden die Uhr einfach toll und wollten sie haben", sagt er.

Hand in Hand: Flaggen sowie ein riesiges Plakat mit einem DDR- und einem Sowjetsoldaten symbolisieren den Bund beider Länder - diese Veranstaltung auf dem Berliner Alexanderplatz fand um 1970 anlässlich eines "Freundschaftstreffens" zwischen DDR und UdSSR statt. Inmitten der Menschen ragt die Weltzeituhr in die Höhe.
Gerhard Kiesling/ Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte

Erich John, von Beruf Formgestalter, wie man die Designer in der DDR nannte, hatte den real existierenden Sozialismus gründlich satt, als in diesem Frühsommer 1968 ein Wettbewerb zur Neugestaltung einer Säule auf dem Berliner Alexanderplatz ausgeschrieben wurde. Zu ihrem 20. Geburtstag wollte sich die SED einen rundum erneuerten, repräsentativen Platz schenken, inklusive Fernsehturm, Mammut-Kaufhaus und Wolkenkratzer-Hotel, gestaltet von der kreativen Crème de la Crème.

Eine Linde für den Alex

"Ihr Formgestalter dürft auch mitmachen", rief ihm Rektor Walter Womacka im Treppenhaus der Kunsthochschule Weißensee zu, an der John als Dozent tätig war. Während einer nicht enden wollenden Sitzung im Juni kritzelte John erste Entwürfe in seinen Kalender: einen Zylinder mit 24 Zeitzonen und beweglichem Stundenring, auf der Spitze ein stilisiertes Sonnensystem, das sich pro Minute einmal dreht.

Sein Entwurf griff das Konzept der alten Urania-Säule auf, die Bauarbeiter 1966 auf dem Alex ausgebuddelt hatten: eine von zahlreichen Säulen aus dem Kaiserreich, die über Wetter und Uhrzeit informierten. John aber hatte mehr im Sinn: "Ich wollte die Entstehung der Zeit darstellen und nachweisen, dass die Zeit sich nicht um Grenzen schert. Die Mauer ist nur ein Staubkorn in der Geschichte."

"Ikarusflüge" hat John seine 2013 erschienene Autobiografie betitelt: Wie der griechische Sagenheld flog John in seinem Leben hoch hinaus und stürzte unsanft ab - die Weltzeituhr entwarf er während einer seiner guten Phasen. Unter 25 Wettbewerbsentwürfen für die Urania-Säule auf dem Alexanderplatz gewann John den Zuschlag. Und stand vor einem gewaltigen Problem.

Weltzeituhr: "Zwölfe isset imma, fracht sich bloß wo"

Und: John schwebte ein zentraler Treffpunkt vor, an dem Menschen zueinander finden. Ein Ort wie die alte Linde, die einst in seinem Heimatdorf Kartitz (Choratice) in Nordböhmen stand. "Als Kinder versteckten wir uns in ihrem ausgehöhlten Stamm oder der riesigen, nach Honig duftenden Krone, rauchten heimlich, teilten die geklauten Weintrauben auf", schwärmt John. Die Linde wurde längst gefällt, sie musste Anfang der Achtzigerjahre einer Umgehungsstraße weichen.

Ikarus aus dem Sudetenland

Auch seine Heimat wurde ihm genommen: Johns Familie wurde nach dem Zweiten Weltkrieg vertrieben, der Hof enteignet. Erich John, damals 13, musste seinem Vater eines Abends gewaltsam den Strick entreißen, mit dem sich der völlig verzweifelte Mann aufhängen wollte. Die Familie kam in ein tschechisches Arbeitslager, jeder musste eine weiße Armbinde mit einem großen "N" tragen für "Nmec" - Deutsch.

Erich kam als Hilfsarbeiter zu einem Kohlehändler, arbeitete im Steinbruch, in einer Asbestfabrik, überall am Körper entwickelten sich Geschwüre. Auf Umwegen gelangte die Familie nach Mecklenburg, der Bauernsohn lernte Plattdeutsch, schaffte es vom Bauschlosser bis zur Kunsthochschule, wurde Formgestalter.

Deutsch-deutsches Uhrenherz

Wie lässt sich in einer Planwirtschaft unter Zeitdruck ein solches Ausnahme-Kunstwerk errichten? Auf ein Auto musste man zehn Jahre warten in der DDR - die Weltzeituhr sollte binnen neun Monaten stehen. John tat sich zusammen mit Ingenieurskollegen aus den Optischen Werken Rathenow, bildete "Feierabendbrigaden", 120 Mann werkelten am Bau der 16-Tonnen-Konstruktion.

Elisa Zadek/ Archiv Prof. E. John/ Weltzeituhr-Berlin.de
Installation am Alex: Zehn Meter ist die Weltzeituhr hoch und rund 16 Tonnen schwer. Zahlreiche Hürden musste John nehmen, um das Bauwerk zu realisieren. Unter anderem bekam er die benötigten Kugellager nicht in der DDR. Die ließ er sich dann kurzerhand aus dem Westen liefern - die 10.000 Westmark zahlte die SED-Führung anstandslos.

Zehn Meter hohe Systemkritik: Aufbau der Uhr auf dem Berliner Alexanderplatz

Im März 1969 stand das gesamte Projekt kurz vor dem Scheitern: Nirgends in der DDR konnte John die benötigten Kugellager von 1,20 Meter Durchmesser auftreiben. Drei Jahre Lieferzeit, erklärten ihm die Mitarbeiter vom Kranbau Eberswalde. Da entdeckte John auf der Messe in Leipzig die Firma Rothe Erde aus Dortmund, die ihm Kugellager binnen drei Monaten liefern würde.

Er schrieb einen Brief an das Zentralkomitee der SED: "Entweder ich kriege 10.000 Westmark oder es wird nüscht mit der Uhr", erzählt John und lacht. Die Partei bewilligte seine Forderung umstandslos. So nahm die Weltzeituhr 20 Jahre vor der Wende die Wiedervereinigung vorweg: In ihrem Innern rotiert ein umgebautes Trabi-Getriebe, kombiniert mit Kugellagern aus der alten BRD.

Um 20 Uhr bei Honolulu

Ein weiteres Problem: die Städte auf der Uhr, um die verschiedenen Zeitzonen anzuzeigen. "Ich legte dem Berliner SED-Parteisekretär eine Liste vor, von der er alles wegstrich, was ihm nicht passte", sagt John. Bonn? Undenkbar, den Klassenfeind auf dem Alex zu verewigen. Athen? Weg damit, dort herrschte die verhasste Junta. "Aber warum, dort befand sich doch die Wiege der europäischen Kultur?", wandte John ein - keine Chance.

Trotz aller Widrigkeiten wurde John rechtzeitig fertig. Polizisten mit Blaulicht begleiteten den Schwerlasttransport mit dem Stahlkoloss vom brandenburgischen Rathenow zum Alexanderplatz, vorweg fuhr ein Trupp, um Äste abzuschneiden und Straßenbahnoberleitungen anzuheben. Am 30. September 1969 übergab John den Schlüssel zur Weltzeituhr an Ost-Berlins Oberbürgermeister Herbert Fechner.

"Bei der Uhr kannste nie zu spät kommen. Zwölfe isset imma, fracht sich bloß wo", schrieb ein Karikaturist der "Berliner Zeitung" nach der Einweihung. Ab sofort verabredeten sich Verliebte um 20 Uhr bei Honolulu, wurden im Schutz der Weltzeituhr Ehen angebahnt, Gehörnte sitzengelassen, Filme gedreht. Und Aufstände geprobt.

1983 hielten fünf Grünen-Politiker um Petra Kelly vor der Uhr Spruchbänder mit der Aufschrift "Abrüstung in Ost und West - jetzt damit anfangen" und "Schwerter zu Pflugscharen" in die Höhe - nach wenigen Minuten nahmen Volkspolizisten die Westdeutschen fest. Und am 4. November 1989, fünf Tage vor dem Mauerfall, thronte die Weltzeituhr über einem Meer aus hunderttausenden Demonstranten, die friedlich gegen die Unfreiheit im DDR-Regime aufbegehrten.

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Glasnost statt Süßmost: Die Demonstration vom 4. November 1989

Weltreisender "Erika"-Schöpfer

Die Mauer fiel - die Weltzeituhr trotzte der Zeitenwende. Ihrem Erfinder Erich John jedoch bescherte die Wiedervereinigung das universitäre Aus: 1992 wurden alle Hochschul-Mitarbeiter entlassen. Um sich erneut für eine Professur zu bewerben, hätte John zwei Mentoren aus den alten Bundesländern auftreiben müssen.

"Das empfand ich als unangemessen arrogant", sagt John, der nicht nur die Weltzeituhr kreiert hat, sondern auch die "Erika"-Schreibmaschine und das Wartburg-Lenkrad, den Elektrorasierer "Bebo Sher", das Standard-Mikroskop für den Bio-Unterricht und einen Cocktailshaker mit integrierter Zitronenpresse. Fein säuberlich aufgereiht stehen die Kreationen des Weltzeituhr-Erfinders bei John unterm Dach, wo er sich selbst ein kleines Museum eingerichtet hat.

Daneben hängen selbstgemalte, farbenfrohe Bilder des Designers. Thailand, Marokko, Island, Indonesien: Anstatt weiter an der Uni zu unterrichten, fuhr John neben seiner Tätigkeit als Innenarchitekt mit Ehefrau Brigitta-Maria an all die Orte, die auf seiner Uhr verzeichnet waren. Auch sein Heimatdorf Kartitz hat John in mehreren Gemälden verewigt. Im Sommer 2019 lernte er bei einer Reise dorthin Ludek kennen, einen slowakischen IT-Spezialisten.

Dank Google-Übersetzer vertieft sich der Kontakt zwischen dem einstigen Vertriebenenkind und dem aktuellen Dorfbewohner. Ludek schenkte John ein Schwarz-Weiß-Foto der uralten Linde. Und John lud Ludek für den Herbst nach Berlin ein. "Damit er endlich mal die Linde auf dem Alex kennenlernt", sagt der alte Mann und lächelt. Zeit schert sich nicht um Grenzen, Freundschaft auch.

Stahlskelett: Die Rotunde wurde auf dem Betriebshof der VEB Wasseraufbereitungsanlagen Rathenow gefertigt - dort, wo normalerweise Klärbecken entstanden. Um die Uhr rechtzeitig zum 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober 1969 fertigzustellen, arbeitete ein Team aus 120 Menschen auch nach Dienstschluss in sogenannten Feierabendbrigaden weiter. Insgesamt kostete die Uhr, Mahnmal gegen Unfreiheit, den SED-Staat damals 480.000 Ost-Mark.
Mammutprojekt: Das Ausnahme-Bauwerk stellte John und sein Team vor enorme Herausforderungen - nicht zuletzt wegen der Größe der insgesamt zehn Meter hohen Weltzeituhr. Als die fertige Uhr von Rathenow zum Alexanderplatz gefahren wurde, begleitete die Polizei mit Blaulicht den Schwerlasttransport, vorweg eilten Männer, um Äste abzuschneiden und Straßenbahnoberleitungen anzuheben.
Es ist vollbracht: Am 30. September 1969 übergab ein überglücklicher Erich John den Schlüssel zur Weltzeituhr an Herbert Fechner, zwischen 1967 und 1974 Oberbürgermeister von Ost-Berlin. Im letzten Moment stellte sich heraus, dass John gar keine Baugenehmigung für die Uhr eingeholt hatte - sie wurde ihm nachträglich ausgestellt.
Sozialistisches Renommierprojekt: Zum 20. Jahrestag der DDR am 7. Oktober 1969 wollte sich die SED-Führung mit einem repräsentativen Alexanderplatz selbst gratulieren. Der neugestaltete Platz sollte "den Aufbau des Sozialismus in der DDR sinnvoll zum Ausdruck bringen", so der mit dem Umbau betraute Architekt Joachim Näther. Zu den Großbauten gehörten u.a. der 368 Meter hohe Fernsehturm (im Jahr seiner Fertigstellung 1969 der zweithöchste Fernsehturm der Welt), ein 38-stöckiges Hotel mit 2000 Betten sowie das größte Kaufhaus der DDR. An kleineren Bauwerken auf dem Platz entstand der Brunnen der Völkerfreundschaft von Künstler Walter Womacka - und die Weltzeituhr.
Eine Linde für den Alex: Designer Erich John wollte mit seiner Weltzeituhr einen zentralen Treffpunkt schaffen, an dem sich die Menschen verabreden. Vorbild: die alte Linde auf dem Dorfplatz in seinem Heimatort Kartitz (Choratice) in Nordböhmen.
"Bei der Uhr kannste nie zu spät kommen. Zwölfe isset imma, fracht sich bloß wo": In diese Worte kleidete ein Karikaturist der "Berliner Zeitung" 1969 sein Staunen über die neu aufgestellte Weltzeituhr. Laut John begreifen die Kinder den Mechanismus stets als Erste - die Älteren brauchen in der Regel eine Weile länger, bis sie verstehen, dass sich der Stundenring dreht und gewissermaßen durch die verschiedenen Zeitzonen wandert.
"Erika" auf dem Dachboden: Erich John hat nicht nur die Weltzeituhr erfunden, sondern auch zahlreiche andere Produkte entworfen. Darunter die "Erika"-Schreibmaschine, ein Cocktailmixer, ein Mikroskop für den Biologie-Unterricht, eine Besteck-Linie, ein Elektrorasierer. All die Produkte hat der Designer auf dem Dachboden seines Hauses versammelt.
Postkutschen auf dem Alex: Eine Ansichtskarte zeigt den Berliner Alexanderplatz um 1900. Benannt 1805 zu Ehren Zar Alexanders I., war der Alex vor dem Ersten Weltkrieg der belebteste Platz der Stadt. Anfang des 20. Jahrhunderts wurden dort die Warenhäuser Tietz, Wertheim und Hahn errichtet, zudem war der Alex ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt.

Quelle: spiegel.de vom 30.09.2019


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